Als die sorbischen Erweckten im Sommer 1751 das Teichnitzer Schloss verließen und sich auf Einladung von Matthäus Lange nach Kleinwelka begaben, war nicht abzusehen, dass hier in den folgenden Jahrzehnten eine weitere brüderische Siedlung entstehen würde. Die Leitung der Brüdergemeine verfolgte zwar den Plan, einen zentralen Versammlungsort für die sorbischen Geschwister zu errichten, jedoch keine neue Siedlung. Die Nähe zur Stadt Bautzen, die die wirtschaftliche Entwicklung einschränken würde, sowie der Umstand, dass mit einem großen Zuzug von Sorben, die häufig herrschaftlich gebunden waren, kaum gerechnet werden konnte, sprachen gegen den Ausbau des Kleinwelkaer Rittergutes zu einer eigenständigen Kolonie.
Vom Versammlungsort hin zum Gemeinort
Entgegen diesen Plänen setzten sich zahlreiche Sorben sowie der erste Prediger von Kleinwelka, Wilhelm Biefer, von Beginn an für eine konsequente und rasche Entwicklung Kleinwelkas zum Gemeinort ein. Zunächst versammelten sich die sorbischen Geschwister im Kleinwelkaer Gutshaus. Dieses hatte Matthäus Lange 1746 mithilfe des Grafen Friedrich Caspar von Gersdorf erworben. Der Versammlungsraum im Gutshaus wurde jedoch bald zu klein, sodass bereits 1752 ein Saalanbau erfolgte. Gleichzeitig errichteten einige sorbische Geschwister erste Wohnhäuser in der Nähe des Rittergutes. Daraus entwickelte sich in den Folgejahren die Kolonie Kleinwelka, eine vom alten Ortskern unabhängige Siedlungsstruktur. Erst 1932 wurden beide Orte, der alte Ortskern und die brüderische Kolonie, rechtlich zusammengeführt.
Um die wachsende brüderische Siedlung unter herrschaftlich-adligen Schutz zu stellen, verkaufte Matthäus Lange das Gut Kleinwelka 1756 für 17 000 Taler an Gräfin Agnes Sophie von Reuß-Ebersdorf, die ebenfalls der Brüdergemeine angehörte. Nach Herrnhut (1722) und Niesky (1742) entstand somit allmählich eine dritte brüderische Siedlung in der Lausitz.
Ein wichtiger Punkt auf dem Weg zum Gemeinort war der Bau des Kirchsaales in den Kriegsjahren 1757/58. Zu dessen Einweihung im Juni 1758 gab Nikolaus Ludwig von Zinzendorf der sorbischen Gemeine in Kleinwelka zwei Warnungen mit auf den Weg: Zum einen sollten ihre „Nationalarten und Gewohnheiten” den Glauben an den Heiland nicht behindern, „was an ihnen wendisch sey, das müsse, wenn es dem Sinne Jesu zu wider sey, alles sterben”. Zum anderen betonte Zinzendorf jedoch, „daß sie ja nicht aufhören möchten ein wendisches gemeinlein zu seyn, welches geschehen könne, wenn viele deutsche unter ihnen wohneten und sie sich nach denselben richteten, Sie sollten aus treue für ihre Nation wendisch bleiben, um ihrem Volke durch Gottes Gnade nützlich zu werden”.
Mit sicherem Gespür für die Situation sprach Zinzendorf hier ein Problem an, das in den folgenden Jahrzehnten die Ortsgemeine Kleinwelka wiederholt beschäftigen sollte: der spezifisch sorbische Charakter der Siedlung. Um diesen zu betonen, wurde Kleinwelka in den Anfangsjahren in Anlehnung an die böhmische Siedlung Niesky in Wendisch Niska umbenannt. Doch setzte sich diese Bezeichnung nicht durch, sodass ab den 1760er Jahren meist wieder von Kleinwelka gesprochen wurde.
Einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zum Gemeinort stellen die Ortsstatuten dar, die im Juni 1766 von 33 Einwohnern unterschrieben wurden. Darin findet sich zum Zweck der neuen Siedlung die Feststellung: „Allermaßen [ist] dieser Ort zum Behufe einer Brüder-Gemein und Anstalt für die Wendische Nation erbaut worden.” Deshalb „soll sich niemand der dieser Nation nicht zugethan wäre, hier anzusiedeln Erlaubniß haben, oder in die Gemeinschaft der Wendischen Brüder aufgenommen werden können, wenn es nicht durchgängiger Genehmhaltung und zum offenbaren besten der hießigen Orts-Einwohner und Wendischen-Nation selbst geschiehet”. Der Ausbau der Siedlung zum Gemeinort und die damit einhergehende Einführung neuer Strukturen, etwa der Chorhäuser, zog jedoch bald immer mehr Nichtsorben in den Ort.
Gegen Zinzendorfs ursprünglichen Willen entschied letztendlich das in Herrnhut übliche Losverfahren am 7. März 1767, dass Kleinwelka künftig ganz nach dem Vorbild anderer Gemeinorte gestaltet werden solle. Im März 1772 erfolgte schließlich die endgültige Anerkennung der Siedlung als vollgültiger Gemeinort. Im Zuge dieser Entwicklung wurden ab den späten 1760er Jahren zahlreiche neue Einrichtungen erbaut: die Chorhäuser für die ledigen Brüder (1764) und Schwestern (1770), das Diasporahaus (1778), die Knabenanstalt (1778), die Mädchenanstalt (1781) und das Gemeinlogis (1781). Zeitgleich entstanden zahlreiche Handwerks- und Landwirtschaftsbetriebe, kleinere Geschäfte sowie eine Tabaksfabrik. Wie vorhergesehen konnten sich jedoch aufgrund der städtischen Bannmeile um Bautzen Handel und Gewerbe nicht frei entfalten. So wurde die Entwicklung Kleinwelkas über Jahrzehnte durch strenge gewerbliche Auflagen und große finanzielle Engpässe eingeschränkt. Es entstanden kaum größere Wirtschaftsbetriebe, die, wie an anderen brüderischen Standorten üblich, das ausgeprägte Gemeinleben hätten finanziell unterstützen können. Die Lage besserte sich erst nach dem Jahr 1795, als die Stadt Bautzen der brüderischen Siedlung einige Privilegien für gewerbliche Unternehmungen überließ. Nun erst konnten etliche größere Gewerbe entstehen. Berühmtheit erlangte die Glockengießerei Friedrich Gruhl, deren Glocken weit über Landesgrenzen hinaus Absatz fanden.
Trotz der anfangs beträchtlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten wuchs die Einwohnerzahl der Kolonie Kleinwelka stetig. 1761 lebten 197 Geschwister im Ort. 1777 zählte man 293 und drei Jahre später bereits 339 Einwohner. Ende des 18. Jahrhunderts wurden 433 Bewohner registriert. Im Vergleich zu anderen Niederlassungen der Brüdergemeine war Kleinwelka jedoch deutlich ländlicher und schlichter geprägt. Weder erreichte es die Wirtschaftskraft der schlesischen Niederlassungen noch Glanz und Ansehen bürgerlich-städtischer Zentren wie Herrnhut oder Neuwied.
Der Weg nach Kleinwelka
Ein Großteil der Diasporageschwister hegte den Wunsch, sich in Kleinwelka oder einer anderen brüderischen Kolonie niederlassen zu dürfen. Dazu mussten die Geschwister jedoch frei von herrschaftlichen Bindungen und ihre wirtschaftliche Versorgung und Unterbringung im Gemeinort geklärt sein.
Einzelpersonen fanden meist in den Chorhäusern Platz oder traten eine Gesindestelle bei Ortsgeschwistern an. Mit den weitestgehend selbstverwalteten Chorhäusern bot die Brüdergemeine vor allem Frauen eine attraktive Alternative zu den herkömmlichen Lebensmodellen als Ehefrau oder unverheiratete Dienstmagd. Hier waren die Mitglieder bei relativer Eigenständigkeit sozial abgesichert und in eine größere Gemeinschaft eingebunden. Zudem war der Stand mit einem gewissen sozialen Prestige verbunden und eröffnete durch verschiedene Ämter und Funktionen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs.
Die Übersiedlung von Familien in einen Gemeinort gestaltete sich dagegen etwas schwieriger, musste doch zunächst die Versorgung aller Familienmitglieder gesichert bzw. eine einträgliche Wirtschaft gefunden werden. Nur wenigen Diasporafamilien gelang es darum, sich dauerhaft in Kleinwelka oder anderen Brüderorten niederzulassen.
Um so wichtiger war vielen deshalb der regelmäßige Besuch in Kleinwelka. Alle zwei Wochen, zum sogenannten großen Sonntag, kamen die Diasporageschwister aus den sorbischen Dörfern zusammen. Für einen großen Teil war es zudem ein besonderes Herzensanliegen, die hohen kirchlichen Feiertage in Kleinwelka zu verbringen. So war der dritte Feiertag der großen kirchlichen Festtage in Kleinwelka ganz den Diasporageschwistern vorbehalten, auch größere Besuchsgruppen aus der Niederlausitz waren dann meist anwesend. Die besuchenden Erweckten kamen in der Regel bei Ortsgeschwistern unter, bis 1778 das Diasporahaus eingeweiht wurde, wo größere Sozietäten eigene Zimmer für sich vorhielten. Aufgrund der vielen auswärtigen Geschwister war der sorbische Anteil an den Gottesdiensten zu den hohen Festtagen höher als gewöhnlich. Regelmäßig wurde dann in sorbischer Sprache gepredigt, gesungen und gebetet sowie Seelsorge in sorbischer Sprache angeboten. Teilweise war der Kirchsaal an diesen hohen Festtagen so gut besucht, dass die Ortsgeschwister gebeten wurden, selbst nicht zum Gottesdienst zu kommen.
Kleinwelka war jedoch nicht nur zentraler Gottesdienstort der erweckten Sorben, sondern von Beginn an auch ein wichtiger Platz für Austausch und Handel. Hier trafen Diasporageschwister, Sympathisanten der Brüdergemeine und Neugierige aus der Ober- und Niederlausitz zusammen, es wurden Neuigkeiten ausgetauscht, Besorgungen erledigt, (wirtschaftliche) Kontakte geknüpft und nicht selten auch Stellen vermittelt.
Kleinwelka als geistliches und kulturelles Zentrum
Der Besuch Kleinwelkas war für viele Diasporageschwister ein eindrückliches Erlebnis. Die städtisch geprägte Architektur, die besondere innere und äußere Verfassung der Gemeine, wie etwa die strikte Geschlechtertrennung, besondere Trachten und Verhaltensvorschriften, das ausgeprägte musikalische Leben sowie die ungewöhnliche gottesdienstliche Ausgestaltung, hinterließen einen tiefen Eindruck. An hohen Festtagen, wo sich Hunderte Gläubige unterschiedlicher sozialer Schichten in Kleinwelka versammelten, mochte das Erleben einer festlichen, geistlich geprägten Gegenwelt zum gewöhnlichen Alltag noch eindrücklicher gewesen sein.
Charakteristisch für das gottesdienstliche Leben der Brüdergemeine waren eine Vielzahl neuer liturgischer Formen, wie etwa die Singstunde, das Liebesmahl oder das Anbeten der Abendmahlsgeschwister, sowie neue Riten, wie die Fußwaschung am Gründonnerstag oder der Gang zum Gottesacker am Ostermorgen. Nicht weniger anziehend wirkten die konsequente Einbeziehung von Laien in die Verkündigungs- und Seelsorgearbeit, eine sehr emotionale Predigtsprache sowie eine für den dörflichen Raum reiche musikalische Ausgestaltung durch Chor, Bläser und Streicher. Zudem wurden regelmäßig besondere Kinderstunden angeboten bzw. die Kinder durch Riten und musikalische Gestaltung in das gottesdienstliche Leben einbezogen.
Doch nicht nur im Hinblick auf das geistliche sowie künstlerisch-musikalische Leben entwickelte sich Kleinwelka rasch zum bedeutenden kulturellen Zentrum inmitten der sorbischen Lausitz. Binnen weniger Jahre profilierte es sich auch als Bildungsstandort. Viele Bewohner der Lausitz, vor allem jedoch die Mitglieder der sorbischen Diaspora wünschten eine Ausbildung ihrer Kinder an den Anstalten in Kleinwelka oder in den ortsansässigen Handwerks- und Gewerbebetrieben. Mit zunehmender Etablierung sandten gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch Lausitzer Adlige ihre Kinder in die Kleinwelkaer Schulanstalten. Ab 1800 wurden diese dann zu Internatsschulen für Kinder brüderischer Missionarsfamilien ausgebaut. Bis zur Schließung der international ausgerichteten Schulen 1942 besuchten annähernd 2 000 Kinder aus aller Welt die Kleinwelkaer Missionsschulanstalten.
Eine besondere kulturgeschichtliche Bedeutung erlangte Kleinwelka in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Zentrum des sorbischen Schrifttums. Regelmäßig wurden hier Gemeinnachrichten, brüderische Lieder, liturgische Texte, Lebensläufe und Predigten ins Sorbische übersetzt. Zuständig dafür waren die jeweiligen Diasporaarbeiter, die von einigen Sorben, Laien wie Geistlichen, unterstützt wurden. Die Übersetzungen wurden für den Gebrauch in Kleinwelka angefertigt, kursierten aber auch in den sorbischen Sozietäten der Lausitz. Sowohl in Kleinwelka als auch in den Versammlungen vor Ort wurde auf diese Weise der Umgang mit sorbischer Schrift und sorbischen Texten eingeübt und für viele Diasporageschwister zur alltäglichen Praxis. Die Brüdergemeine trägt somit großen Anteil an der sorbischsprachigen Alphabetisierung großer Teile der evangelischen Sorben. Die meisten der übersetzten brüderischen Texte existierten als Handschrift, nur einige wenige, wie etwa Zinzendorfs Reden an die Diaspora, wurden auch gedruckt. Von dem einst sehr umfangreichen sorbischen brüderischen Schrifttum sind allerdings nur noch wenige Bruchstücke erhalten: ein zweisprachiges Liedblatt, eine sorbische Predigt aus dem Jahr 1756 sowie drei sorbisch-deutsche Wörterbücher, die die intensive Auseinandersetzung mit dem Sorbischen in Kleinwelka dokumentieren.
Rückgang des Sorbischen in Kleinwelka
Aufgrund der zunehmenden Institutionalisierung und strengen wirtschaftlichen Konsolidierung, in deren Zuge zahlreiche Verantwortungsträger aus deutschsprachigen Gemeinorten nach Kleinwelka berufen wurden, nahm der sorbische Charakter Kleinwelkas im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kontinuierlich ab. Diese Entwicklung wurde durch das fehlende Bewusstsein für die Seelsorge in sorbischer Sprache bei nachrückenden Akteuren befördert. Darüber hinaus bedeutete der erfolgreiche Aufbau der Missionsschulanstalten die zunehmende Einbindung Kleinwelkas in den internationalen Kommunikationsraum der Brüdergemeine. So verlor das Sorbische im Laufe des 18. Jahrhunderts als öffentliche (Liturgie-)Sprache in Kleinwelka zunehmend an Bedeutung. In den Chorhäusern und einzelnen Familien war es dagegen länger präsent. Entsprechend dieser Entwicklung sank gegen Ende des 18. Jahrhunderts allmählich die Zahl der sorbischen Diasporageschwister. Gleichwohl blieb Kleinwelka für einzelne sorbische Sozietäten und zerstreut wohnende Geschwister auch im 19. Jahrhundert noch ein zentraler geistlicher Ortientierungsort.
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