Historischer Überblick
Die 1722 erfolgte Grundsteinlegung Herrnhuts und die dort bald entstehende Brüdergemeine stießen auf reges Interesse in der Lausitz. Schon bald begaben sich Neugierige und Erweckte aus den umliegenden Gemeinden nach Herrnhut, um am dortigen religiösen Leben teilzuhaben. Unter den ersten Besuchern waren auch zahlreiche Sorben, vor allem aus den nur wenige Kilometer entfernt liegenden sorbischen Kirchspielen Löbau, Kittlitz und Hochkirch. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, unter dessen Obhut die Brüdergemeine entstand, empfing wiederholt sorbische Gruppen, hielt ihnen Predigten und bestärkte sie, sich der brüderischen Bewegung anzuschließen.
Bald schon gründeten die erweckten Sorben in ihren Dörfern eigene brüderische Versammlungen, sogenannte Sozietäten. In und um Bautzen trafen die von Herrnhut ausgehenden Erweckungen auch auf ältere pietistische Gruppen und belebten diese neu. Unterstützung fanden sie durch Graf Friedrich Caspar von Gersdorf, einem Großcousin Zinzendorfs. Graf Gersdorf war seit 1731 Oberamtshauptmann der Oberlausitz und förderte die Entstehung Herrnhuts, wobei politisches und privates Engagement kaum auseinandergehalten werden können. Zugleich setzte er sich tatkräftig dafür ein, die von dort ausgehenden Erweckungen für die Sorben fruchtbar zu machen. So ließ Gersdorf sorbische Lehrer und Laienprediger in Herrnhut ausbilden, schuf eine sorbische Predigerkonferenz, förderte den Druck sorbischer Andachtsliteratur und gründete etliche Schulen.
In den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens war die Herrnhuter Brüdergemeine sowohl in Regierungs- als auch in Kirchenkreisen höchst umstritten. Aufgrund persönlicher Missverständnisse und politischer Zwänge wandte sich auch Graf Gersdorf für einige Zeit den Franckeschen Stiftungen in Halle zu und unterhielt Kontakte zu Johann Adam Steinmetz in Magdeburg. Eine besonders enge Freundschaft verband ihn mit der Hofgemeinde der Grafen von Reuß in Ebersdorf/Vogtland. Diese unterschiedlichen Einflüsse prägten auch die Entwicklung in den sorbischen Gemeinden, weshalb sich nicht alle Erweckten Herrnhut anschlossen. Einige bildeten kleine Sondergruppen, andere besuchten regelmäßig die hallisch geprägten Erbauungsstunden, die August Adolph von Below um 1750 auf seinem Gut Großwelka eingeführt hatte.
Nachdem sich die Ebersdorfer Gemeine mit Herrnhut vereinigt hatte, schloss sich 1746 auch Friedrich Caspar von Gersdorf wieder ganz Herrnhut an. Sein Gut Teichnitz, in dem sich seit 1744 die Erweckten aus Bautzen und den umliegenden Dörfern trafen, wurde nun zum Zentrum der Herrnhuter in der Bautzener Gegend. Ein weiterer wichtiger Stützpunkt waren die Schulanstalten in Uhyst/Spree, die seit 1743 bestanden. Lehrer und Geistliche hielten regelmäßig im Schloss und im 1747 neu errichteten herrschaftlichen Schulgebäude eigene Erbauungsstunden, die von zahlreichen Bewohnern der umliegenden Ortschaften besucht wurden. So entwickelte sich Uhyst rasch zum Zentrum der Erweckten zwischen Hoyerswerda und der Muskauer Heide und blieb es, bis die Anstalten 1756 geschlossen und nach Niesky verlegt wurden. 1784 gelang es der Brüdergemeine mit der Wiederbelebung der Anstalten, an die vorhergehende Tradition anzuknüpfen und Uhyst wieder zum regionalen Zentrum auszubauen. Ende des 18. Jahrhunderts entfaltete sich außerdem der Kirchort Milkel unter Pfarrer Johann Noack zum wichtigen Versammlungsort der sorbischen Erweckten.
Entsprechend der Erbbestimmungen fiel Teichnitz nach dem Tod Friedrich Caspar von Gersdorfs 1751 an die Baruther Linie derer von Gersdorf, die die frommen Versammlungen nicht länger duldete. Deshalb zogen die sorbischen Geschwister noch im Sommer 1751 ins nahe gelegene Kleinwelka, das Gersdorfs langjähriger, bewährter Mitarbeiter Matthäus Lange 1746 mit der Hilfe des Grafen erworben hatte.
In den Folgejahren entwickelte sich Kleinwelka somit zum Zentralort für die erweckten Sorben aus der Ober- und Niederlausitz, auch wenn sich ein Teil weiterhin stärker nach Herrnhut oder Niesky orientierte. Vor allem in den 1750er Jahren bestanden Bemühungen, die tschechischsprachigen Einwohner Nieskys und die Sorben enger zusammenzubringen, etwa in einer gemeinsamen Siedlung. Letzteres wurde zwar nicht verwirklicht, doch lässt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf personeller Ebene ein reger Austausch zwischen den tschechischsprachigen Gemeinorten Niesky und Berlin/Rixdorf sowie der sorbischen Gemeindearbeit beobachten.
Brüdergemeine, Sorben und Mission
Durch die bald weltumspannende Gemeinschaft der Herrnhuter wurde auch die sorbische Diaspora rasch Teil des weltweiten Kommunikationsnetzes der Brüdergemeine. Nachrichten aus Übersee und den fernen Missionsstandorten wurden in Kleinwelka ebenso gern gelesen wie in den sorbischen Sozietäten. Dies bestärkte bei einigen den Wunsch, sich selbst in die Mission zu begeben und so standen bald über 40 Frauen und Männer sorbischer Herkunft aus der Nieder- und Oberlausitz im Missionsdienst der Brüdergemeine. Ein Großteil von ihnen wirkte in Südafrika, Grönland und Labrador, einzelne arbeiteten jedoch auch in Surinam, Indien oder der Karibik. Andere gingen dem Ruf der Gemeine folgend als Siedler nach Sarepta (Russland) oder waren am Aufbau der brüderischen Siedlungen in Pennsylvanien (USA) beteiligt.
Herrnhuter Predigerkonferenz
Neben den Gemeinorten und der Diasporaarbeit wurden Fragen des sorbischen Gemeindelebens auch in der Herrnhuter Predigerkonferenz besprochen. Diese wurde im Juni 1754 gegründet und stellte einen Zusammenschluss der mit Herrnhut sympathisierenden Pfarrer dar. Etliche sorbische Geistliche, wie etwa Johann Benade, Johann Lehmann, Michael Friedrich Franz und Christian Friedrich Brahtz, beteiligten sich regelmäßig an den überregionalen Treffen. Neben dem allgemeinen kollegialen Austausch wurden dort auch spezifisch sorbische Themen angesprochen und der Druck sorbischer Andachtsliteratur angeregt und unterstützt.
Lausitzer Rittergüter im Besitz der Brüdergemeine
Seit Mitte des 18. Jahrhunderts befanden sich verschiedene Rittergüter im sorbischen Siedlungsgebiet entweder direkt im Besitz der Brüdergemeine oder gehörten Adligen, die Mitglieder waren. Dies gilt beispielsweise für die Güter Klix, Göbeln, Leichnam (Spreewiese) mit Pertinentien und Kleinwelka, später auch Uhyst/Spree sowie Mönau, Rauden, Lieske, Kauppa und Salga. In je unterschiedlichem Maße unterstanden diese Güter direkt oder indirekt der Verwaltung der Brüdergemeine und wurden durch diese bewirtschaftet. Über die Berufung der Pfarrer und Lehrer, aber auch der Verwalter, Pächter und Betriebsleiter, wie etwa Brauer, Förster, Schäfer etc., konnte die Brüdergemeine bzw. der ihr angehörige Adel nicht nur die Entwicklung der Dorfgemeinschaft beeinflussen, sondern auch überregionale Impulse setzen.
Beobachtungen zur kulturellen Prägekraft der Brüdergemeine
Die von Herrnhut ausgehende und bald von Kleinwelka her organisierte Erweckung der Sorben barg eine ungeheure Dynamik und ein großes Veränderungspotenzial in sich. Vier Dimensionen dieses Geschehens sollen hier besonders herausgehoben werden:
- Moralisierung
- Geografische und soziale Mobilisierung
- Literarisierung: Alphabetisierung und Verschriftlichung der sorbischen Kultur
- Pluralisierung der sorbischen Gesellschaft
1. Moralisierung
Die Zugehörigkeit zur Brüdergemeine bzw. die Mitgliedschaft in einer Sozietät sollte im Alltag sichtbar werden. Erwartet und von den Diasporaarbeitern bzw. ihren Helfern kontrolliert wurden sittliches Verhalten in Haus und Hof, vorbildhafter Umgang mit Kindern und Gesinde, eine gewissenhafte Arbeitsmoral sowie ein regelmäßiger Gottesdienstbesuch in der Heimatkirchgemeinde. Alkohol, Tanz und Spiel waren verpönt; bei Missachtung drohte (vorläufiger) Ausschluss aus der Gemeine. Großer Wert wurde auf die Erziehung der Kinder gelegt, wie die Gründung von Schulen, das Abhalten eigener Kindergottesdienste sowie die Diskussion von Erziehungsfragen in den sogenannten Ehechorstunden zeigen.
2. Geografische und soziale Mobilisierung
Die von Herrnhut ausgehenden bzw. verstärkten Erweckungen lösten weiträumige Wanderungsbewegungen aus. Zahlreiche Sorben aus der Ober- und Niederlausitz pilgerten nach Herrnhut, Teichnitz und Kleinwelka, trafen sich in Sozietäten vor Ort und suchten erwecklich predigende Pfarrer auf. Diese räumliche Mobilität ließ über bisherige Dorf-, Sprach- und Standesgrenzen hinweg neue Netzwerke entstehen, die bald auch wirtschaftlich genutzt wurden und somit auch einen sozialen Aufstieg ermöglichten. Zudem regte die räumliche Mobilität dazu an, auch sprachlich-mentale Grenzen zu überwinden. Zahlreiche Sorbinnen und Sorben erlernten im Umfeld der Brüdergemeine das Deutsche oder eigneten sich Lese- und Schreibfertigkeiten an.
Nicht zuletzt bedeutete der Anschluss an die Gemeine auch den Zugang zu einer internationalen Gemeinschaft, was auch dazu führte, dass sich etliche Sorbinnen und Sorben selbst in die Mission begaben, wie etwa Agnes Lemmerz, Catherine Stürmann oder Georg Kmoch.
3. Literarisierung
Alphabetisierung und Verschriftlichung der sorbischen Kultur
Die Gründung zahlreicher Schulen sowie der Druck vielfältiger sorbischer Andachtsliteratur im Umfeld der Brüdergemeine förderten darüber hinaus die sorbischsprachige Alphabetisierung der Lausitzer Bevölkerung. Besonders nachhaltig erwies sich dabei die Forderung des Pietismus nach intensivem Bibelstudium und das regelmäßige Lesen von Erbauungsliteratur, wurden doch somit erworbene Lesekenntnisse (ein-)geübt und gefestigt. War die sorbische Kultur bis um 1750 im Wesentlichen eine mündliche Kultur, so wandelte sie sich unter dem Einfluss Herrnhuts zunehmend in eine Schriftkultur. Die Brüdergemeine trägt also großen Anteil an diesem fundamentalen kulturellen Wandel.
4. Pluralisierung der sorbischen Gesellschaft
Sowohl Folge als auch Ursache der zunehmenden Schriftlichkeit war die einhergehende zunehmende (Meinungs-)Pluralisierung und die daraus folgende Ausdifferenzierung der sorbischen Bevölkerung. Im Umkreis der Herrnhuter Brüdergemeine entstanden zahlreiche religiöse Gruppierungen, teils radikal-kirchenkritischer, teils moderater Art, die ihre eigenen religiösen Ansichten unter anderem auch durch Druckmedien zu verbreiten suchten, was wiederum zur Dynamisierung des sorbischen Buchmarkts beitrug. Am Ende des 18. Jahrhunderts gab es somit nicht mehr nur evangelische und katholische Sorben, sondern innerhalb der evangelischen Sorben eine bemerkenswerte und folgenreiche Ausdifferenzierung.
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