Zur Rezeption und Wirkungsgeschichte der „Statistika łužiskich Serbow“


Der Blick auf die unmittelbare Rezeption von Mukas 1886 im Selbstverlag als Monografie erschienener „Statistik“, die er zuvor ab 1884 in drei Teilen in der Zeitschrift der Maćica Serbska publiziert hatte, gibt Einblick in die Reichweite sorabistischer Publizistik dieser Zeit. Mit der „Statistik“ stehen wir einer der wichtigsten sorbischen wissenschaftlichen Studie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber. Das Vorhaben ist auf unterschiedlichen Ebenen bedeutsam: Mukas Text bietet aus volkskundlich-sorabistischer Perspektive den ersten sich auf der Höhe des zeitgenössischen Nationaldiskurses befindlichen Ansatz für einen modernen sorbischen Volksbegriff, er sucht die direkte Kontroverse mit der als beherrschend und häufig feindlich erlebten deutschen Diskursposition in Wissenschaft und (sprach-)politischer Verwaltung und er stellt als zeitweises Gruppenprojekt nicht zuletzt die publizistische und empiristische Leistungsfähigkeit der in der Maćica Serbska organisierten sorbischen Wissenschaftler und/oder Aktivisten unter Beweis.

Dieser Bedeutung wird die zeitgenössische öffentliche Rezeption der „Statistik“ allerdings nur teilweise gerecht. Mukas Großprojekt stieß vor allem in den über die Zeitschrift der Maćica Serbska mit der sorbischen Publizistik verbundenen polnischen und tschechischen Nachbarslawinen auf Resonanz unter Fachkollegen, die im Fall von Adolf Černý zugleich enge Freunde und wissenschaftliche Wegbegleiter Mukas waren. Sie veröffentlichten auch einzelne Besprechungen des Buches u. a. in polnischen und tschechischen Periodika. Neben einer sorbischen Rezension von Jurij Libš in der Nummer 8/1886 findet sich in der Zeitschrift der Maćica dieses Jahrgangs zudem die Nachricht, dass mehrere deutsche Provinzialzeitungen in der Lausitz Mukas deutlich von den amtlichen Zahlen abweichenden Sorbenzahlen veröffentlicht hätten. Wissenschaftlich blieben die öffentlichen Reaktionen aus der deutschsprachigen regionalen wie überregionalen akademischen Welt jedoch aus. Hatte z. B. das „Neue Lausitzische Magazin“ der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz 1876 noch Richard Andrees „Wendische Wanderstudien“ ausführlich besprochen, fand die in gewissen Aspekten auch als sorbische Antwort zu verstehende Studie Mukas hier keinerlei Erwähnung. Das gleiche Bild bietet sich beim Blick in die überregionalen, mit volkskundlichen Themen befassten Periodika. Bis heute hat sich an diesem Befund in Bezug auf die „Statistik“ quasi nichts verändert. Der Text ist in der deutschen Volkskunde und Soziologie weithin unbekannt, wird daher in fachgeschichtlichen Lehrbüchern nicht thematisiert und findet so auch in der universitären Ausbildung keine Beachtung, wo er als besonders eindrückliches Beispiel für die ablehnend-skeptische Position dienen könnte, von der aus die Gründungsgeneration der wissenschaftlichen Volkskunde im deutschen Sprachraum die Industrialisierung und Modernisierung beschrieb.

Allerdings ist dieser Befund auch der besonderen Situation der sorbischsprachigen Publizistik geschuldet, die zwar einerseits dem deutschen Diskursraum angehört und dessen politischen Rahmensetzungen unterworfen ist, ihn aber häufig absichtsvoll aus der Perspektive des anderen betrachtet, wie Muka das auch in seiner „Statistik“ tut, in der sich sorbisches Land und Deutschland als Innen und Außen gegenüberstehen. Die Sorbischsprachigkeit des Textes ist hier zweifach zu sehen: Einerseits wirkt sie kräftigend in die Sprachgruppe hinein und hilft ganz wesentlich dabei, einen eigenen wissenschaftlichen publizistischen Sprachraum überhaupt erst zu erschaffen. Andererseits wird eine sprachliche Grenzziehung gegen das als Außen positionierte Deutsche vorgenommen, das nicht zuletzt als wissenschaftliche Öffentlichkeit im Jahr 1886 nur in wenigen Fällen des Sorbischen mächtig war. Führt man sich vor Augen, dass Mukas „Statistik“ seit ihrem Erscheinen nie eine Neuauflage erfahren hat oder bisher in ihrer Gesamtheit ins Deutsche übersetzt wurde, so liegt auch hierin ein Grund für die konstatierte relative Unbekanntheit des Textes in Deutschland bis heute.

Richtet man den Blick nun auf die slawistische bzw. sorabistische Wirkungsgeschichte des Textes, so trifft man auf zwei Tendenzen: Zum einen diente Mukas Studie in kleinerem Umfang als Inspiration bzw. Quelle einiger bedeutender Einzelarbeiten. Zum anderen stellt die „Statistik“ vordringlich mit Blick auf ihr Zahlenmaterial eine gern genutzte Quelle für ein weites Feld sorabistischer und thematisch verwandter Publizistik dar, ohne dabei in ihrer textlichen Tiefe und Quellenbreite aber angemessen ausgeschöpft zu werden.

In Bezug auf die Einzelarbeiten gilt es, drei Publikationen besonders hervorzuheben: 1899 veröffentlichte der polnische Slawist Stefan Ramułt (1859–1913) die „Statystyka ludności kaszubskiej“, eine an Mukas Projekt orientierte „Statistik“ der Kaschuben. Ramułt und Muka standen in brieflicher Korrespondenz und der polnische Slawist in Krakau hatte immer wieder Interesse an den Publikationen der Maćica Serbska gezeigt. Seine „Statistik“ ist im Vergleich zu Muka methodisch strenger und konzentrierter und verzichtet weitgehend auf volkskundliche und kultursoziologische Betrachtungen und daran gekoppelte politische Wertungen, wie Muka sie vornimmt. Ramułts Sprachbeherrschungs-Tabellen der einzelnen Dörfer und die daraus entwickelte Karte des kaschubischen Sprachgebietes weisen aber eindeutig auf das sorbische Vorbild hin. Die zweite wichtige Arbeit, die Mukas „Statistik“ zur Basis wählte, legte der Sorabist Ernst Tschernik (1910–1988) mit seiner demografischen Studie „Die Entwicklung der sorbischen Bevölkerung von 1832 bis 1945“ im Jahr 1954 vor. In ihr druckte er Mukas Kirchgemeindetabellen vollständig in deutscher Übersetzung ab, ging jedoch auf seine ethnografischen und historischen Beschreibungen, die immerhin etwa zwei Drittel des Textkorpus der „Statistik“ ausmachen, nur sehr knapp ein. Mukas Zahlen bildeten auch die Grundlage und Vergleichsebene von Tscherniks eigener Erhebung der sorbischen Sprecherzahlen in Ober- und Niederlausitz im Jahr 1954, deren Ergebnisse aber nicht publiziert wurden, da man minderheitspolitische Nachteile aufgrund der abnehmenden Zahlen befürchtete. Damit deuten sich an diesem Punkt zwei im Fortgang wichtige Phänomene an: zum einen die Verkürzung von Mukas Text auf sein Zahlenmaterial, zum anderen die von sorbischer Seite zunehmende Ablehnung der Idee, sorbisch sprechende Menschen angesichts des schrumpfenden aktiv zweisprachigen Gebiets in der Lausitz quantifizieren zu wollen. Einen originär anderen Zugang zu Mukas Text wählte schließlich Martin Walde im Jahr 2012. In seinem Langessay „Wie man seine Sprache hassen lernt – sozialpsychologische Überlegungen zum deutsch-sorbischen Konfliktverhältnis“ fokussiert er sich erstmals in der Sorabistik ausschließlich auf die ethnografischen Passagen der „Statistik“, um anhand von Mukas Beschreibungen seine Thesen zu den psychodynamischen Bedingungen zu stützen, die nach Walde der Sprachweitergabe des Sorbischen aus einer sorbischen Binnenperspektive heraus im Weg standen. Hierbei folgt er Mukas dichotomischer Weltteilung in sorbisch und deutsch und widmet sich u. a. ausführlich der von Muka geprägten Figur des němcowar, also des die eigene sorbische Muttersprache aktiv bekämpfenden Deutschlers.

Neben diesen hervorzuhebenden Einzelstudien bildet die „Statistika łužiskich Serbow“ als wissenschaftlicher Klassiker einen allgemeinen Fixpunkt im kulturellen Gedächtnis der Sorben – was aber nicht gleichbedeutend mit einer hohen allgemeinen Kenntnis des konkreten Textkorpus zu verstehen ist. Mukas erhobene Zahlen finden sich in zahlreichen Wikipedia-Ortseinträgen zur Lausitz wieder und seine Definition der ober- und niedersorbischen Kirchspiele sowie die Karte des sorbischsprachigen Gebietes im Anhang der „Statistik“ bilden bis heute wichtige Grundlagen für die rechtliche Definition des sorbischen Siedlungsgebietes in den Bundesländern Brandenburg und Sachsen. Die Seite aus Teil 3 der „Statistik“, auf der er seine Ergebnisse überblicksartig zusammenfasst, ist derzeit gemeinsam mit der Karte ein Teil der Dauerausstellung des Sorbischen Museums in Bautzen und damit zu einem eigenen Erinnerungsort der sorbischen Geschichte geronnen. Sein němcowar hat es bis zum Songtitel der deutsch-sorbischen Berliner Band „Čorna krušwa“ gebracht. Schließlich ist auch Muka selbst als berühmter Sorbenzähler in Teilaspekte der Figur des Rühmsack in Kito Lorenc Tragigroteske „Die wendische Schifffahrt“ eingeflossen.

Allerdings fokussieren sich diese vielfältigen Bezugnahmen wie bereits angedeutet im sorbischen Blickwinkel sehr stark auf Mukas Zahlenmaterial, also die Quantifizierung der Sorben – und nur wenig auf die geschichtswissenschaftlichen, ethnografischen und soziologischen Aspekte des Textes. Auch eine kritische Analyse von Mukas hierbei getroffenen Zuschreibungen und Postulaten zur sorbischen Kultur ist bisher in sorabistischer Perspektive nicht über erste Ansätze hinausgekommen. Arnošt Muka erfährt heute in der Sorabistik und der Slawistik vor allem als bedeutender Linguist des Niedersorbischen sowie als zentraler Organisator des wissenschaftlichen, (kultur-)politischen und gesellschaftlichen sorbischen Lebens seiner Epoche Wertschätzung. Dass er in dieser zweiten Funktion mit seinen volkskundlichen Arbeiten, allen voran seiner „Statistik“, nachhaltig die Richtung, die kulturtheoretischen Grundannahmen und damit auch die blinden Flecke der sorabistischen Forschung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und in Teilaspekten noch weit darüber hinaus prägte, geriet dabei etwas aus dem Blick. Mukas „Statistik“ ist im Lauf des 20. Jahrhunderts zu einem diskursgeschichtlichen Denkmal geworden, hinter dem der eigentliche Text verblasste. Es gilt daher in Zukunft, sie wieder zu einer sprechenden Quelle zu machen und für die fruchtbare Analyse neu zu öffnen.

Literatur

Lorenc, Kito: Die Wendische Schifffahrt. Bautzen 2004.

Muka, Arnošt: Statistika łužiskich Serbow. Budyšin 1884–1886.

Norberg, Madlena; Kosta, Peter (Hg.): Arnošt Muka – Ein Sorbe und Universalgelehrter. Potsdam 2004.

Petr, Jan: Arnošt Muka. Budyšin, 1978.

Ramułt, Stefan: Statystyka ludności kaszubskiej. Kraków 1899.

Schuster-Šewc, Heinz: Arnošt Muka als Sorabist und Slawist, in: Lětopis A (1975), S. 130–142.

Tschernik, Ernst: Die Entwicklung der sorbischen Bevölkerung von 1832 bis 1945. Berlin 1954.

Zeil, Wilhelm: Polnisch-sorbische Wissenschaftsbeziehungen im Spiegel unveröffentlichter Briefe Stefan Ramułts an Korla Arnošt Muka 1884 – 1905. In: P Polsko-łużyckie stosunki literackie, Wrocław-Warszawa-Kraków 1970, S. 35–45.